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Einige sehr persönliche Erinnerungen an Alfons Hochhauser und an Urlaubstage in seiner Pension im Kloster Paleo Trikeri im Pagasaischen Golf von Volos, im Jahre 1963, eingeleitet durch eine kurze Schilderung der damals ungewöhnlichen Anreise.

Von Jürgen Kahle

Seit Mitte der 50er Jahre hatte ich schon einige Male mit Freunden Trampfahrten durch Hellas gemacht, hatte leidlich die Dhimotiki gelernt, hatte mit Beginn des Wirtschaftswunders ein gebrauchtes VW Cabriolet erworben und wollte meinen alternden Eltern noch einmal das Land ihrer Träume zeigen: mein humanistischer Vater hatte nach seiner kürzlichen Pensionierung durch einen kleinen Forschungsauftrag seine Pension aufbessern können, ich schwänzte kurzerhand 2 Studiensemester und so fuhren wir zu Ostern 1963 gen Süden – über die damals noch nicht ausgebauten und in ihrer Steilheit fast unbezwingbaren Tauernpässe und über den Wurzen durch Slowenien, Bosnien, die Herzegowina - über Sarajewo nach Mazedonien - kreuz und quer auf wilden, kaum befahrbaren Pisten, Wald- und Feldwegen.

Jürgen Kahles Eltern im VW-Cabrio auf der Fahrt nach Hellas, 1963. Foto: J. Kahle

Das Benzin, falls es denn welches gab, wurde in Gallonen gerechnet und in Kanistern abgewogen; primitive, oft verwanzte Unterkünfte gab es nur in größeren Städten; zu essen gab es- es war ja Frühjahr- außer Bohnen, hartem Brot und Cevapcici kaum etwas; die Landkarten waren kaum lesbar und schlecht zu bekommen, sodass wir oft nur nach Kompass in Richtung Süden fuhren; die Polizei war trotz unserer vorschriftsmäßigen Papiere und einem Transitna Visum misstrauisch und hielt uns mehr als einmal in ländlichen Polizeistationen unter Arrest. Besonders beeindruckend war für uns die noch ganz osmanisch orientierte Bevölkerung, die nicht die Reformen eines Kemal Atatürk mitbekommen hatte, sondern in noch ganz mittelalterlichen Dörfern, Trachten und Gebräuchen fast wie zu Zeiten Harun al Rashids lebte und die kaum verstehen konnte, dass da Menschen aus einem fernen Land zu ihnen gekommen waren, die man nicht verstehen konnte, denen  man aber viel Sympathie und Gastfreundschaft entgegenbrachte.

Über den Ohridsee und Florina kamen wir schließlich nach 10 Tagen Karl May’scher Abenteuerfahrt in das von einem schweren Erdbeben noch immer stark zerstörte Volos, parkten unser ungeschütztes Cabrio voller Gottvertrauen in einer Seitenstraße unweit des Hafens und bestiegen den Agios Nikolaos, ein kleines Kaiki, das die einzige Verbindung zwischen Volos, Trikeri und den Sporadeninseln bildete. Das Deck war voller Körbe, Kisten, Fässer und praller Säcke. Ganze Bauernfamilien hatten sich dazwischen einen Platz gesucht- und da es eine stürmische Überfahrt wurde, waren bald viele Fahrgäste seekrank und brachen still und ungeniert vor sich hin- es roch nicht gut! Alte, schwarzgekleidete Omas hatten ihre Enkel auf dem verschmierten Schoß- obwohl selbst leidend, versuchten sie, den Kindern den Mund zuzuhalten, worauf das Erbrochene aus der Nase rauskam. Als Heilmittel gegen das Elend galt wohl trockenes Weißbrot, das in die Münder gestopft, dann aber gleich explosionsartig wieder nach außen befördert wurde. Ein Vorhof der Hölle!

Endlich - der Anlegesteg der Insel Paleo Trikkeri - nur wenige Häuser. Alphon, den ich zum ersten Mal als reale Person sah, kam mit Knechten und Eseln und begrüßte uns überschwänglich; meine Mutter bekam einen formvollendeten Handkuss: „Küss die Hand, gnä Frau!“; sein rechtes Bein war dabei gestelzt zierlich nach hinten gestreckt. In mir brach eine Welt zusammen! Dieses mickrige exaltierte  Männle war also Xenophon, der Held meiner Jugend, der große Raubfischer und Kapellenbauer, der Schweinehirt und Tavernenwirt, der Bootsmann des Hans Hass, der Mann, der seinen grimmen Erzfeind Psarathanas mit einem einzigen Faustschlag getötet hatte, und den mein guter Freund, der Schriftsteller Werner Helwig, in seiner grandiosen Hellastrilogie so mystisch überhöht dargestellt hatte. Und der uns damit den Weg in die hellenische Welt gewiesen hatte, die uns so faszinierte! Ich konnte und wollte es nicht glauben!

Alfons und Chariklia begrüßen die Gäste, 1963. Foto: J. Kahle

Unser Gepäck wurde auf Packsätteln  verschnürt; wer wollte, durfte aufsitzen, und bald zog die kleine Karawane in den Innenhof des Klosters ein. Es war gerade Abendessenszeit. Die wenigen Gäste saßen in einem großen zeltähnlichen Rundbau, der aus Ästen geflochten und mit Laub abgedichtet war, auf geflochtenen niederen Sesseln, um runde bequeme Tische herum, auf denen in einer Karaffe Mavro - ein dunkelroter herber Wein – stand; ein runder grobgeflochtener Korb voller geschälter Walnüsse ( sogar die braune Innenhaut war entfernt!), eine hellbrennende Petroleumlampe, ein Korb voller Früchte, eine zierliche Flasche mit Olivenöl, ein Teller mit halbierten Zitronen, in kleinen Glasschüsselchen grobes Meersalz und schwarzer, grobgemörserter Pfeffer, gerebelter Rigani. Schlanke, schwarzgekleidete Mädchen brachten die Speisen: Souvlaki und Köftedes, Salate, im Ofen gebratene Kartoffeln, geschlitzte Zwiebeln und Knoblauch, ein Schüsselchen brauner Oliven, in Öl eingelegter Feta - mit Rigani bestreut, weißes Brot. Das Paradies?

Postkarte, die Hochhauser anbot. Text auf der Rückseite: Bei Andreas Hochhauser, Nisi Trikeri, Golf von Volos, Griechenland

Im Hintergrund saß eine Gruppe von Gästen, die Instrumente dabei hatten: Eine Gitarre, eine Bousouki, eine Mandoline. Man begann zu spielen, leise und zirpend zuerst, dann lauter, wilder – einige der Gäste kannten die Lieder und sangen mit. Tische wurden beiseite geräumt, eine Tanzreihe bildete sich und formte Schlangenlinien, der Gesang wurde fast ekstatisch – und dann erschien Chariklia, die Frau des Alphon. Sie hatte Teller unter dem Arm, tanzte wie eine Hexe mit, schrie an bestimmten Liedstellen ein schrilles Hóppa und zerschmetterte einen Teller nach dem anderen auf dem Boden. Die Gäste johlten, applaudierten und freuten sich, Chariklia strahlte und schaute Beifall heischend in die Runde, Alphon lehnte mit grimmigem Gesicht an einem Stützpfeiler und missbilligte. Und ich gestehe, auch ich fand das Theater affig, so sehr ich die Musik und den Tanz liebte.

Unsere mönchige Schlafzelle:  ein langer, schmaler, niederer Raum, weiß gekalkt. Ein kleines Fenster zum Meer und in die Olivenhaine. Eine schmale, harte Schlafstatt mit bunter Wolldecke. In der Ecke eine Amphore mit frischem Wasser.  Ein kleiner Tisch, ein harter Stuhl. Ein Glasschüsselchen mit weißgepudertem Lukumi als Betthupferl. Einige rostige Nägel in der Wand, um die Kleider dran aufzuhängen. Ebenfalls an der Wand eine kleine Petroleumlampe, die von fleißigen Mädchen jeden Tag sorgfältig geputzt wurde. Ein altmodischer Drahtständer mit einer Emaillewaschschüssel, einer bauchigen Wasserkanne und einem Eimer fürs gebrauchte Wasser,  mit einem nach innen gewölbten Deckel und einem Loch in der Mitte. In einer Ablage ein großes Stück glitschige, grünlich-bernsteinfarbene Olivenseife, die einem eine den ganzen Tag andauernde Duftnote verlieh - wie im Hamam des Sultans!

In der Wand in einer kleinen Nische ein Wasserglas, zwei Mokkatässchen, eine Schüssel mit Würfelzucker, ein Glas mit feingemahlenem Kaffee, ein Spiritusbrenner aus Messing. Ein Salzfass, ein Finjan: ein kupfernes Kännchen mit langem Stiel zur Bereitung von Mokka. Eine Schachtel Spirtà: Streichhölzer. Ein kleiner Löffel, ein stumpfes Messer. Ein Glas mit Zahnstochern. Eine Kerze für den Notfall. Eine schmale Tür führte ins Freie zu einem von mächtigen Steinbögen getragenem Umgang; der Blick ging in einen großen, grünen Innenhof.

Blick in den Innenhof des Klosters, 1963. Foto: J. Kahle

Wie ich später erfuhr, war das wehrhafte Gebäude nie als Kloster genutzt worden, sondern diente den Trikerioten als Zuflucht in Kriegszeiten. Das Hauptdorf Trikeri lag, nur mühsam auf steilen Kalderimias , treppenähnlichen Eselspfaden, zu erreichen, schräg gegenüber auf dem Festland, oben am Berg. Ihm zu Füßen lag der kleine Fischerort Agia Kiriaki - mit einem kleinen Hafen und vielen bunten Fischerbooten, einige davon mit großen schwarzen Gaslampen zum Lichtfischen bewehrt. Trinkwasser gab es dort nur aus Regenwasserzisternen, die kellerartig unter den Häusern gebaut worden waren. Das Wasser schmeckte bitter und leicht salzig.

 Im Hafen von Aghia Kiriaki, 1963. Foto: J. Kahle

Es gab dort einige wunderschöne kleine Fischtavernen – auf schwimmenden hölzernen Plattformen teilweise ins Meer hinaus gebaut. An hölzernen Gestellen hingen pickelige Sepia-Tintenfische, dörrten und rochen vor sich hin. Der beste Fisch, der dort aufgetischt wurde, war eine gebratene Barbounia, eine Rotbarbe. Sie war wundersam gefüllt mit Mandeln, verschiedenen Kräutern und Zwiebeln, hatte eine krosse, goldbraune Haut und schmeckte ganz stark nach Meer. Allerdings - nicht so schön: sie hatte auch spitze Gräten.

Nachts war der Golf übersät mit kleinen weißen Lichtpunkten – den Lichtfischern. Und, schwamm man selbst hinaus, war der Leib umgeben von grünlich leuchtendem Gewaber. Wie man hörte, waren es Amöben, die diesen geheimnisvollen Lichteffekt erzeugten, wurden sie in Bewegung gebracht. Wie Nordlichte in Skandinavien!

Vor dem Frühstück machte ich in aller Herrgottsfrühe einen Erkundungsspaziergang über die Insel. Alfons mit großem Strohhut, kam die Arme weit schlenkernd den Kalderimi herab, mit Riesenschritten von Stein zu Stein  stelzend wie ein Storch; mit Helfern und Eseln, die Holzfässer trugen. Er erklärte mir, dass die Brunnen der Insel nur fauliges Brackwasser brächten und er deshalb täglich frisches Quellwasser vom Festland her auf Booten bringen ließe. Im Hafen hob man mit einem Hebebaum die Fässer von Bord eines kleinen Schiffes und nahm die leeren Fässer wieder über. Bevor Alfons aber die Fässer akzeptierte, ließ er etwas Wasser in seine hohle Hand laufen, schlürfte gurgelnd ein und spülte laut gluckernd seinen Mund damit aus, sah dabei lange und sinnend in den Himmel.  Dann sprühte er das Wasser in hohem Bogen durch eine Zahnlücke ins Meer- und die Fässer, die Gefallen gefunden hatten, wurden ins Kloster geschafft.

Hier wurden die Gäste verpflegt. 1964. Foto: Kurt Berger

Chariklias Küche liegt im Freien unter einem Laubdach: ein großer gemauerter Herd, ein pummeliger Brotbackofen, ein eiserner Grill neben einem Fass Holzkohle, einfache Regale für das Geschirr. Pfannen, Töpfe und Eimer hängen an staksigen Ästen rundum; viel hölzernes Geschirr gibt’s. Sie hätte so gern ein Radio, aber Alfons erlaubt ihr noch nicht einmal ein kleines Kofferradio: auf seiner Insel sei keine künstliche Musik zugelassen.  Selbst wir beide kommen in Konflikt: Ich habe ein kleines Uher-Tonbandgerät dabei mit Renaissancemusik und mittelalterlichen Kirchenmusiken. Nein, nicht auf seiner Insel! Egal, welche Art von Musik! Ich füge mich artig und höre noch nicht einmal heimlich unter der Bettdecke.

Beim Trödeln durch den Garten in Richtung Frühstücksplatz holte ich eine kleine hölzerne Schlange aus der Tasche, die ich auf einem bosnischen Markt gekauft  hatte. Sie bestand aus vielen kleinen Bambusröhrchen, die locker mit Drähten verbunden waren. Hielt man die Schlange kurz hinter dem Kopf waagrecht, machte ihr Körper täuschend echte Schlängelbewegungen. Plötzlich stürzte, laut kreischend, Chariklia herbei, riss mir böse schimpfend das Spielzeug aus der Hand, warf es weit weg ins Gebüsch und zischte mich an. Was war jetzt das?

Schwarzgekleidete ranke Mädchen schreiten, viel photographiert, des Weges. Auf dem Haupte tragen sie tönerne Amphoren, bringen frisches Wasser in die Zimmer. Täglich zur Frühstückszeit hoppelt ein schöner, fast nackter Knabe auf einem Esel vorbei, spielt eine schnelle schrille Melodie auf einer winzig kleinen Holzflöte. Kameraverschlüsse klicken um die Wette. Wie süüß!

Zum Frühstück gibt’s frischgebackenes krosses Weißbrot; die Butter ist, wie es damals landestypisch war, etwas ranzig. Herber, kratziger Honig als Pfütze auf dem Tellerboden. Es gibt kafedes gliki - Mokka mit viel Zucker in kleinen Tässchen. Wer von den Gästen seine Nescafédose mitbringt, wird schief angeguckt. Einige haben auch eine Salami oder ein Stück Schinken von zu Hause mitgebracht! Unmööglich! Tomaten, Zwiebeln, Fetakäse, schwarze Oliven, bittere Orangen-marmelade: Das ist griechisches Frühstück! Viel Wasser wird getrunken- aus großen Gläsern. Es ist so kalt, dass das Glas von außen beschlägt und kleine Tropfenspuren herabrinnen.  Da es morgens schon sehr heiß ist, kann man gleich noch ein Glas trinken. Es ist ein göttliches Getränk! Den ganzen Tag trinkt man und trinkt - kann gar nicht wieder aufhören. Alphons weist uns an, auf die Farbe unseres Urins zu achten. Ist er zu gelb, muss man noch mehr trinken, damit die Niere nicht geschädigt wird. Außerdem sollte man viel Meersalz essen- dies sei gut gegen Aggressionen! Hab ich schon mal gehört.

 Nach dem Frühstück werden Unternehmungen angeboten. Ein Eselsritt über die Insel, ein Hinweis zu einsamen Buchten, wo man ungestört baden, schnorcheln und angeln kann. Die primitiven Angelgeräte kann man im Kiosk am Hafen kaufen: einige Meter Plastikfaden um ein Stück Kork gewickelt, ein verrosteter Haken. Als Köder dienen Brotkugeln oder Würmer, die man auch im Kiosk kaufen kann. Gefangen wird wenig: winzig kleine Fischlein, ähnlich den Sardinen, voller spitzer Gräten. Wer‘s mag!

 Einige gehen ins Kafenion am Hafen - zum Kaffetrinken und Tavla spielen. Andere lassen sich für wenig Geld von Fischern nach Agia Kiriaki übersetzen.  Mit meinen Eltern wandere ich auf einen kleinen Berg, auf dem eine schmucke Kapelle steht. Wir schauen über den Golf und ins gegenüberliegende thessalische Pindosgebirge und rauchen leichte filterlose Orientzigaretten. Papastrati ena. Hellas!!  Gegen lästige Kinderscharen, die uns arme Reisende oft heuschreckenartig überfielen, machten wir irgendwo Halt, trug mein Vater ein damals noch weitgehend unbekanntes Röhrchen mit Seifenblasen mit sich – eine Wunderwaffe, die die Kinder dazu brachte, jubelnd den vielen Blasen hinterher zu toben und uns in Frieden zu lassen. Vor der Kapelle hielt er den Ring in den Wind – hunderte von schillernden Kügelchen trieben durch die Luft - und gleichzeitig erschien ein großer Schwarm Schwalben, die laut kreischend die Blasen verfolgten und sie totpickten.

 Aber all diese Lustbarkeiten hatten ihren Preis – irgendwie verständlich, denn die Beschaffung der Grundnahrungsmittel war schwierig. Und Alfons langte ordentlich zu, ging‘s um die Zeche. Das dumme war, dass man nie vorher wusste, was etwas kostete. Was man wusste, war, dass alles genau notiert wurde. Entsprechend war seine Klientel wohlbetucht und hatte zusätzlich noch den exklusiven Hauch von Prominenz: Es waren meist Direktores, Professores, zumindest Doktores, Adelsvolk, Künstler und Psychiater, die er um sich scharte und ihnen das einfache Leben lehrte. Wir armen Kirchenmäuse waren nur deshalb gelitten, da mein Vater einen Doktortitel der Philosophie trug, was in Alfons Augen wohl gleichbedeutend mit einer wohlgefüllten Geldkatze war.

Mit weichsamtener österreichischer Sprache umschwänzelte Alfons seine Gäste mit Ihrem vollen Titel: sehr wohl, Herr Graf, habe die Ehre, Frau Gräfin, wie belieben Herr Professor Doktor; dabei buckelte er devot und machte Kratzfüße. Chariklia war viel natürlicher und selbstbewusster – man sah ihr an, wie peinlich ihr diese ganze Lobhudelei war. Da die Kosten des  Aufenthalts auf der Insel nun so gar nicht unseren begrenzten finanziellen Möglichkeiten zu entsprechen schienen, planten wir unsere baldige Abreise, wollten aber anderntags noch an einer Schiffspartie in den Golf teilnehmen, auf der einige byzantinische Kirchen und Klösterchen auf einsamen Inseln besucht werden sollten.

Chariklia 1963. Foto: J. Kahle

In aller Herrgottsfrühe traf sich eine illustre Schar auf dem Landungssteg und bestieg wohlgemut das saubergeschruppte Deck - der Tag schien sich zu einem Hochgenuss zu gestalten!  Das sandfarbene Gaffelsegel wurde gehisst und die Leinen gelöst. Man saß an der Reling und schaute stundenlang ins Kielwasser, erbat kurze Stopps, um von Bord ins tiefblaue Wasser zu springen, hatte Ekel vor riesigen Quallen, Angst vor Haifischen und sah Schwärme von fliegenden Fischen, trank einen Ouzo oder einen Schluck Wein, räkelte und ölte sich, hörte den Raubfischerstories des Alfons zu und diskutierte fachkundig mit Gleichgesinnten über byzantinische Kunst und die Via Egnatia, über Erhard Kästner und die Stundentrommel in den Klöstern des Berges Athos oder in den Meteoraklöstern, über Lord Byron, den bayrischen Maler Rothmans, den Argonauten Jason und Kolchis, das Land des goldenen Vließes – ein Jeder hielt sich für den Größten und sonnte sich in seinen wohlgesetzten Worten - kurz: ein jeder hatte, was er brauchte.

                                     Bootspartie 1963. Foto: J. Kahle

Auf einer kleinen wunderschönen Insel - ich erinnere sogar den Namen: Brachuda, die Grüne – wurde auf den Stufen einer kompakten kleinen Kuppelkirche ein Picknick bereitet: Bunte Decken wurden ausgebreitet, weiße Tischtücher, Körbe mit allen Arten von Essbarem wurden herangetragen und verteilt, Amphoren mit Getränken aufgestellt. Auf einem kleinen Feuerchen wurde Mokka gekocht, Fleisch und Käse gebraten, ein großer Haufen Weißbrot wurde geschnitten, in einer irdenen Schüssel ein grandioser Salat bereitet,  Oliven verteilt. Dazu gab‘s reichlich Ouzo, Tsipouro und verschiedene Sorten Krassi, auch mal eine Flasche FIX Portokalada  – oh, Du mein lieber Gott! Man befand sich ganz nah an der absoluten Glückseligkeit!

Doch es war noch nicht aller Tage Abend! Durch das aufwendige Zusammenpacken waren wir etwas in Zeitnot geraten; weit weit weg hörten wir, ohne der Sache größere Aufmerksamkeit zu schenken, das leise Grummeln eines Gewitters. Bei strammem achterlichen Wind trieb es uns mit weit ausgestelltem Segel gen Südosten - auf langen Wellenbergen; von Kennern als „Kotzkurs“ bezeichnet. Der Wind wurde unregelmäßig und frischte stark auf.

Unerwartet kam eine heftige Seitenbö - und es geschah, was einem Steuermann gar nie passieren darf: das Segel halste und der Baum schlug mit einem dumpfen Schlag jäh auf die Backbordseite -  dabei brach der Gaffelbaum und das Großsegel verhedderte sich, konnte nicht mehr heruntergelassen werden; drückte das Boot auf die Seite. Wir alle dachten, unser letztes Stündlein sei gekommen!  Der Matrose fingerte die Motor-Anlasskurbel aus einem Fach und verschwand mit Alfons im Maschinenschapp.

Bock bock bock. Bock bock bock. Der Motor rülpste, spuckte, räusperte sich. Kleine Rauchringe kamen aus dem Auspuff.  Wieder, wieder, immer wieder. Beide taten ihr Bestes - jedoch vergebens. Hinter uns zog, vom Pindos herkommend, eine rabenschwarze Wolkenwand heran, Blitze zuckten.  Bock bock bock - nichts. Das Meer war aufgewühlt und kabbelig, das Boot war völlig aus dem Ruder gelaufen und tanzte wie eine Nussschale auf den Wellen. Die ersten Brecher kamen über Bord und durchweichten alles - große Angst kam auf. Meine armen Eltern!

Von den Gästen war ich wohl der einzige, der etwas von Seefahrt und Dieselmotoren verstand. So stieg ich zu den beiden Männern ins Schapp und fummelte am uralten Motor herum, um vielleicht so etwas wie einen Joke zu entdecken.  Bock bock, keuch, aus.

Da entdeckte ich den Ansaugstutzen, in dem sich gewöhnlich der Joke befand.  Einige verrostete Drähte hingen drin herum - es gab aber keine Spur von der Drosselklappe. Aber ein verölter Lappen lag auf dem Boden.  Ich knüllte daraus eine Kugel und presste sie fest auf den Stutzen. Mit übermenschlicher Kraft drehten die Männer die jetzt schwerer bewegliche Kurbel, immer wieder, immer wieder.  Ihre Gesichter waren nass vom Schweiß. Bock bock,  bock bock – boog. Es roch stark nach Diesel - immerhin ein gutes Zeichen. Nochmal: bock bock, bockbockbock - da wurde mein Öllappenpfropfen mit Macht in den Stutzen gesogen. Gottlob soff der Motor gleich wieder ab, und ich konnte den Fetzen wieder herausziehen – nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre er in den Ventilraum gesaugt worden.

Ein erneuter Versuch - immerhin hatte die Maschine schon etwas gesagt! Und plötzlich: bockbock bockbock  bok bok bok- die Kurbel klinkte aus - der Motor lief regelrecht und rund, das Boot gehorchte wieder dem Ruder, aus dem Auspuff kamen runde Rauchringe, das Schiff nahm, wenn auch schiefliegend, artig Fahrt auf. Im selben Moment öffneten sich die Himmelsschleusen, im Blitzlichtgewitter liefen wir, nass bis auf die Haut, in den gar nicht weit entfernten Hafen ein und machten in kurzer Zeit am Landesteg fest. Männer eilten herbei, halfen und bargen das Segel.

 Beim Abendessen war ich der King – Schicksalsgenossen kamen an unseren Tisch und bedankten sich mit warmem Händedruck – ein Philosophieprof aus Erlangen machte mir sogar das ehrenvolle Angebot, bei ihm zu promovieren. Und meine Eltern waren so stolz auf ihren Sohn!


Die Aghios Nikolaos am Anleger der Insel Trikeri, 1963. Foto: J.Kahle

Anderntags verließen wir planmäßig mit dem Agios Nikolaos die Insel; hatten vorher pflichtgemäß die Zeche bezahlt, die mich als Verwalter der Reisekasse leichenblass werden ließ! Ohne besondere Vorkommnisse trafen wir, diesmal unter milden Winden, in Volos ein, fanden unser Auto zwar staubig, aber unversehrt vor und brachen auf zu einer herrlichen, fünfmonatigen Fahrt durch das damals noch weitgehend jungfräuliche Hellas.

                                                                                                                                                 

                                                                                                            
                                                                                                                                                                                      

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